Das Lied der Wölfin

Über schorische Musik und Kehlkopfgesang

(Dieser Text erscheint original im Presseheft zu „Ausgerechnet Sibirien“, herausgegeben von Majestic Filmverleih, betreut von LimeLight PR)


Matthias Bleuels Geschichte begann mit einem Lied. Im Frühjahr 2007 bekam ich aus Sibirien eine CD geschickt, mit Demo-Aufnahmen der schorischen Sängerin Tschyltys Tannagaschewa. Es war eine selbstgebrannte CD, ohne Titelangaben, also war das Stück, das mich vom ersten Hören an nicht mehr losließ, lange Zeit für mich „Nummer 11“. Erst viel später erfuhr ich, dass es „Pörü saryny“ heißt, das Lied der Wölfin. Es ist sehr schlicht gehalten, nur Tschyltys‘ Stimme und ihr Kai-komus, die zweisaitige Laute. Mehr ist auch nicht nötig. Am Anfang kann die Stimme einen erschrecken: dieses geisterhafte Schnarren, zu dem Matthias Bleuel in seiner Mühe, Haltung zu wahren, auf Anhieb nichts Besseres einfällt als „gewöhnungsbedürftig“. Kehlkopfgesang ist das, die zentralasiatische Variante des Obertongesangs. Für europäisch geschulte Ohren in der Tat keine vertrauten Klänge, erst recht nicht, wenn eine junge Frau sie hervorbringt. Aber die Melodie ist sofort unwiderstehlich. Und spätestens wenn Tschyltys in der Mitte des Lieds in ihre helle, klagende Bruststimme wechselt, ist es um einen geschehen. So ging es mir und so geht es Bleuel, und es war dieses Musikerlebnis, das mich überhaupt auf die Idee zu der Geschichte brachte. Alles andere kam danach. Ohne Tschyltys‘ Lied der Wölfin gäbe es weder den Roman Der Neuling noch den Film „Ausgerechnet Sibirien“.

Die Schoren sind eins der kleinen sibirischen Völker, etwa 11.500 von ihnen leben heute im Gebiet Kemerowo. Mit ihrer Musik führt Tschyltys eine uralte Tradition fort und bricht zugleich mit ihr. Der Kehlkopfgesang war in der schorischen Kultur immer den Männern vorbehalten. Wenn eine Frau damit anfängt, wird sie unfruchtbar, hieß es. Tschyltys hat vor vier Jahren eine Tochter geboren.

Das schorische Wort „Kai“ heißt sowohl Kehlkopfgesang als auch Epos. Kai-komus, die Laute, ist also das Epos-Instrument, und der Sänger, der zu ihren Klängen am Feuer mit Geisterstimme die alten Mythen und Heldenlieder vorträgt, wird Kai-tschi genannt. Wie der Schamane wählt auch der Sänger seinen Beruf nicht selbst, sondern er wird von den Geistern erkoren.


Das schorische Epos kann dauern, oft mehrere Tage lang. Für Nahrungsaufnahme, Notdurft und Nickerchen darf der Kai-tschi kleine Pausen einlegen, aber längere Unterbrechungen sind gefährlich. Wenn eine Geschichte nicht zu Ende erzählt, ein Lied nicht zu Ende gesungen wird, werden die Geister sehr zornig.

Inzwischen ist die Tradition ausgestorben. Der letzte Kai-tschi war Tschyltys‘ Onkel. Er kam, etwa siebzigjährig, beim Versuch ums Leben, nachts die Hausfassade hoch zum Fenster seiner Geliebten zu klettern; sie wohnte im vierten Stock.

Seine Nichte hieß mit Anfang zwanzig noch Olga und dachte nicht daran, Musikerin zu werden. Wie den meisten Schoren stand ihr die alte Kultur in der postsowjetischen Wirklichkeit der Jahrtausendwende ziemlich fern. Dann überlebte sie einen schweren Autounfall, und während sie genas, wuchs in ihr der Drang zu singen. Auf Schorisch. Neue Lieder, Lieder für heute, aber anknüpfend an die Überlieferungen der Ahnen. So ist aus Olga Tannagaschewa Tschyltys geworden, „die schorische Diva“, Vorbild für meine Romanfigur Ak Torgu, der wir für den Film den eingängigeren Namen Sajana gegeben haben.

Ich habe Tschyltys viel zu verdanken. Als ich in Sibirien unterwegs war, nahm sie mich mit in die schorischen Dörfer und auch zu den Kalten Quellen, dem heiligen Ort, an dem die Geister gefüttert wurden. Und später, der Roman war erschienen, konnte ich mit ihr gemeinsam zwei großartige Konzert-Lesetouren machen, erst durch Deutschland, die Schweiz und Österreich, dann durch Sibirien. Der Höhepunkt eines jeden unserer Auftritte, selbst wenn das Publikum nie zuvor Kehlkopfgesang gehört hatte, war das Lied der Wölfin.

 

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